Atlantis by Hannu Raittila

Atlantis by Hannu Raittila

Autor:Hannu Raittila [Raittila, Hannu]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
veröffentlicht: 2013-06-17T22:00:00+00:00


Helena

Mit dem Volkskundlichen Institut der Universität hatte ich im Prinzip nicht viel zu tun, aber im ersten Sommer gab ich Hauptfachstudenten einen Kurs in Feldforschung, in dem unter anderem Überlieferungen der Menschen, die vor 1963 auf der Insel gelebt hatten, zusammengetragen wurden. Die Studenten bekamen auf diese Weise ihre Noten, und ich hatte einen Grundstock an Material, das ich alleine gar nicht hätte sammeln können. Das Jahr 63 hatte ich als Zeitgrenze gewählt, weil damals die Fähre und der Straßenanschluss kamen, durch die sich der Charakter von Wohnen und Arbeiten so entscheidend veränderte, dass man die gesamte Geschichte der Insel in die Zeit vor der Fähre und die Zeit danach teilen kann. Auch hinsichtlich meiner Hypothesen zur Akkulturation des orthodoxen Dorfes war die Zeitgrenze relevant.

Ich hatte nicht berücksichtigt, dass der größte Teil der zu Interviewenden im Altersheim im Kirchdorf lebte, zu dem es auf dem Landweg über hundert Kilometer waren. Zum Glück kam die Stiftung zu Hilfe. Wir konnten ein Schiff benutzen, ein für Charterzwecke umgebautes altes Teerdampfschiff, das groß genug war, um damit über den offenen See ins Kirchdorf zu fahren, nachdem die Feldforschung auf der Insel selbst abgeschlossen war. Dank des Teerdampfers wurde der Kurs zu einem Erlebnis, das die Studenten, wie sie selbst sagten, nie vergessen würden. Die Kursteilnehmer hatten auf dem Schiff ihre Unterkünfte, und im Salon war Platz für Lagebesprechungen, Referate und Analysen.

Ich fuhr nach jedem Kurstag mit dem Motorboot zurück, weil ich nicht den Nerv hatte, mich an den nächtlichen Bier- und Saunagelagen der Studenten zu beteiligen. Nachdem wir von der Insel zum Kirchdorf gewechselt waren, blieb ich allerdings einmal über Nacht auf dem Dampfer, und das lohnte sich. Ein Kursteilnehmer berichtete von einer über hundertjährigen Frau, die er tagsüber interviewt hatte. Ich hörte die Kassette ab und begriff, dass ich diese Frau treffen musste, später, in aller Ruhe.

Und so lernte ich Anna kennen.

Die alte Frau hatte sorgfältig alle offziellen und inoffiziellen Schriftstücke, die in ihrem Leben angefallen waren, aufbewahrt. Viele waren es in hundert Jahren nicht gewesen. Die Briefe und Dokumente passten in einen Schuhkarton. Ganz oben lag die Mitteilung, dass Anna einen Platz im Altersheim der Gemeinde bekommen habe. Die Unterlagen in dem Karton waren in der Reihenfolge geordnet, wie sie die Ereignisse in Annas Leben hervorgebracht hatten.

Aus der mittleren Periode zog ich einen braunen Briefumschlag heraus. Er enthielt ein Schreiben vom Juli 1944, versehen mit dem Stempel des Wehrbezirks, in dem es in verblasster Schreibmaschinenschrift hieß:«Leider hat sich der Krieg für Ihren Sohn als zu hart erwiesen. Wir sehen uns nicht in der Lage, seinen Leichnam nach Hause zu überführen. Er ist im Kriegsgebiet bestattet worden.» Anna sah zu, wie ich den Brief wieder an seinen Platz in dem Karton ihres Lebens legte. Angeblich hatte es zwei Briefe gegeben, aber einer war verschwunden.

Einmal, das war im Sommer darauf, ging ich mit Anna im Garten des Altersheims spazieren. Aus einer Laune heraus setzte ich sie auf den Sitz eines Tretschlittens, der Räder hatte, und schob sie bis ans Saimaa-Ufer. Es war ein vollkommen windstiller Abend kurz nach Mittsommer.



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