Atemnot by Carola Clasen

Atemnot by Carola Clasen

Autor:Carola Clasen
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: KBV Verlag
veröffentlicht: 2014-02-07T05:00:00+00:00


12. Kapitel

Hatte Muriel Nestler sie erwartet? Fast schien es so, denn sie war nicht überrascht, als Sonja am Sonntagmorgen durch das kleine Tor den Garten betrat.

Sie saß im Gras, mitten im Kreis des Lebens, die Knie angezogen, auf- und abwippend voller Unruhe. Nicht in ihrem schwarzen Kleid, sondern in Jeans und Hemd, mit Sandalen und zusammengebundenem Haar, die graue Katze zusammengerollt auf ihrem Schoß.

Etwas hatte sich im Garten verändert. Sonja brauchte einen Moment, um herauszufinden, dass die drei Skulpturen fehlten, die sie auf der Ausstellung noch hatte bewundern können.

»Da bist du ja!« war alles, was Muriel sagte, und das ›du‹ klang selbstverständlich. Sie rückte ein wenig zur Seite, so dass Sonja sich neben sie setzen konnte, und es schien, als würde sie ein wenig ruhiger.

»Das ist Tiger, mein Kater«, stellte sie ihn vor, als Sonja über seinen Kopf strich. Er genoss die Sonne und die Streicheleinheiten und schnurrte.

Sonja setzte sich seufzend, und ohne Muriel anzusehen ließ sie ihren Blick schweifen über den Kreis des Lebens hinaus, über das Tal zu den nächsten Hügeln bis zum Horizont, grün nur grün, manchmal unterbrochen vom hellen Gelb der Rapsfelder, oder dem dunklen Gelb der gemähten Felder.

Und über allem war dieser Duft nach Erde, Heu, frisch gefälltem Holz, nach Grün, nach Ruhe, den Sonja nicht vergessen hatte. Sie ließ sich auf den Rücken fallen und sah in den Himmel, kleine Wölkchen reisten umher, ein Greifvogel zog seine Runden, die gerade Spur eines Flugzeuges. Grillengezirpe und Bienengesumme in den Ohren, ein leichter Windzug streifte sie, und das Gras war noch kühl und feucht.

Gerade wollte sich Sonja nach dem Verbleib der drei Skulpturen erkundigen, als Muriel fragte: »Wo ist dein Freund?«

Sonja antwortete nicht sofort.

»Er ist ein schöner Mann«, fuhr Muriel fort.

Sonja nickte und schwieg weiter.

Nach einer Weile begann Muriel mit leiser, monotoner Stimme zu erzählen, als spreche sie zu sich selbst.

»Ich komme auch aus Trier. Ich war früher ein Model.«

Ein Model, ach, das hätte sie sich denken können, wieso war sie nicht selbst darauf gekommen, fragte sich Sonja, dieser Gang, diese Haltung, diese Bewegungen, sie waren einstudiert, filmreif, als hinge sie an einem unsichtbaren Faden.

»Meine Tage waren Hetze, Hetze und nochmals Hetze. Abends fiel ich erschöpft in mich zusammen, und irgendwann war dann der Punkt gekommen, an dem ich mir sagte, so geht es nicht weiter.«

»Das kenne ich …«, begann Sonja, aber Muriel ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Und außerdem bist du als Model mit fünfundzwanzig draußen. Zu alt.«

Fünfundzwanzig, dachte Sonja, was soll ich denn sagen!

»Auf die Idee, Kunst zu machen, kam ich erst, als ich einmal hier draußen war und diesen Hof entdeckte. Irgendwas muss man ja tun. Meine Eltern sind früh gestorben und haben mir ein riesiges Haus hinterlassen, viel zu groß für mich. Ich habe alles verkauft, mein ganzes Geld hier hineingesteckt und alles hinter mir gelassen.«

»Alles?«, fragte Sonja ungläubig.

»Ja, alles. Meine Arbeit, meine Freunde, sogar meinen ›Lebensabschnittsgefährten‹.«

»Puh!«, stöhnte Sonja. Wenn ich das auch könnte …

»Nur Tiger nicht, ihn habe ich mitgenommen. Auch für ihn ist das hier ein Paradies«. Muriel strich dem Kater liebevoll über die Augen.



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