Astas Tagebuch by Vine Barbara
Autor:Vine, Barbara [Vine, Barbara]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60118-3
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-27T00:00:00+00:00
[284] 14
DER PROZESS ALFRED ROPER
Der Mordprozeß gegen Alfred Roper war mit der letzte, bei dem Strafverteidiger Howard de Filippis in dem alten Justizgebäude, dem sogenannten Old Bailey, auftrat. Am 16. Oktober 1905 leitete die Verhandlung Richter Edmondson, Vertreter der Anklage war Richard Tate-Memling. Roper war angeklagt, am oder um den 27. Juli 1905 herum seiner Frau Elizabeth Louisa Roper die Kehle durchgeschnitten zu haben, und beteuerte seine Unschuld.
Vor De Filippis, einem ungewöhnlich großen, kräftigen Mann mit hellen, durchdringenden Augen, betraten drei Gerichtsdiener den Saal. Einer trug einen Stoß Taschentücher, der zweite eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser, der dritte ein aufblasbares Sitzkissen. Dieser »Requisiten« pflegte sich der große Advokat für Kunstgriffe und Ablenkungsmanöver zu bedienen, und selten wurden sie so wirkungsvoll eingesetzt wie im Fall Roper.
Tate-Memling war sehr viel kleiner, doch über seinem achtunggebietenden Auftreten und der imponierenden Macht seiner Stimme war im Saal seine kleine Statur rasch vergessen. Vor allem seine wohltönende, fast verführerische Stimme war weithin berühmt – die Stimme eines Schauspielers auf einer Bühne, die Leben heißt.
Die Besonderheit des Richters und früheren [285] Staatsanwalts Lewis Wilford Edmondson war sein beharrliches Schweigen in den von ihm geleiteten Prozessen. Er enthielt sich bewußt der bei vielen Vorsitzenden sonst so beliebten teils witzigen, teils nur lästigen Fragen und Einwürfe, verbreitete vielmehr kraft seiner stummen Beobachterrolle eine bedrückende Kälte.
Die Jury wurde vereidigt, und nachdem Staatsanwalt Tate-Memling einen Augenblick schweigend in den Saal gesehen und den ebenfalls schweigenden und düster blickenden Richter kurz angeschaut hatte, begann er mit seinen Ausführungen.
Es handle sich, so sagte er, um ein schweres Delikt, mit dem sich die Geschworenen eingehend auseinandersetzen müßten. Am Morgen des 4. August, einem Freitag, waren in einem Zimmer im zweiten Stock der Villa Devon in der Navarino Road, Hackney, Mrs. Elizabeth Louisa Roper und in ihrer unmittelbaren Nähe deren Mutter, Mrs. Maria Sarah Hyde, tot aufgefunden worden. Mrs. Hyde war, wie sich herausstellte, eines natürlichen Todes gestorben, so daß ihr Fall die Geschworenen hier nicht beschäftigte. Mrs. Roper lag mit durchgeschnittener Kehle da. Sie war, als man sie fand, seit mindestens einer Woche tot.
Er schilderte das Leben des Angeklagten in der Villa Devon mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seinen Kindern und den übrigen Hausbewohnern. Der Angeklagte sei von Beruf Apotheker und wünsche diesen Beruf auch in Zukunft auszuüben, und sei mithin im Besitz spezieller Kenntnisse über gewisse Drogen. Im Frühjahr und Sommer 1905 habe er, wie dem Gericht noch im einzelnen dargelegt werden solle, regelmäßig und über einen Zeitraum von [286] sechs Monaten eine bestimmte Menge Hyoscinhydrobromid verabreicht, eine bei nicht überaus sorgsamer Dosierung hochgiftige Substanz.
Zweifellos sollte auf diese Weise Mrs. Ropers Tod herbeigeführt werden. Die Ehe war nicht glücklich, und Roper hatte die Absicht geäußert, mit seinem Sohn in eine andere Gegend zu ziehen und dort ohne seine Frau zu leben. Trotz der fortgesetzten Verabreichung von Hyoscin aber starb Mrs. Roper nicht. Der Tag der Abreise kam, und noch immer erfreute Mrs. Roper sich bester Gesundheit, ja, sie rechnete fest damit, ihrem Mann eine Woche später nach Cambridge zu folgen und dort weiterhin in ehelicher Gemeinschaft mit ihm zu leben.
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