Anna, die Schule und der liebe Gott by Richard David Precht
Autor:Richard David Precht [Precht, Richard David]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
Herausgeber: Goldmann
veröffentlicht: 2013-04-01T22:00:00+00:00
Lebendiges Wissen
Kinder, die heute zur Schule gehen, stehen, wie gezeigt, zumeist nicht in einer unmittelbaren globalen Konkurrenz um ihren späteren Beruf. Aber nichtsdestotrotz gibt es für sie neue Herausforderungen, und zwar sowohl kognitive wie auch emotionale. Für unsere Vorstellung von Bildung hat das weitreichende Konsequenzen. Schon Hegel hatte kritisiert, dass dem deutschen Bildungsbegriff ein bisschen zu viel Innerlichkeit innewohnt – eine Innerlichkeit, wie sie wohl typisch war für ein Kleinstaatengebilde, in dem eine gut vernetzte öffentliche intellektuelle Kultur wie in Frankreich fehlte. Der Bildungsbegriff, wie die Goethezeit ihn definierte, spreizte sich oft umso pathetischer, je provinzieller seine Herkunft war. Als Vorbild im Hinblick auf Bildung galt Hegel deshalb nicht der deutsche Bildungsbegriff, sondern die französische Encyclopédie. Nur wer sich im regen Austausch befindet und bewährt, praktiziert Bildung.
Bildung, so könnte man es anders formulieren, ist lebendiges Wissen. Und was für Hegels Zeit galt, gilt in einer fortgeschrittenen Wissensgesellschaft wie der unseren umso mehr. Erfahrungswissen, Urteilsvermögen und die Fähigkeit, sich selbst organisieren zu können, müssen im Umgang mit anderen erprobt werden. Dazu kommt ein Bildungsklima, das das Einüben solcher Fähigkeiten überhaupt erst ermöglicht und Kreativität und Originalität belohnt. Gute Ideen entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern im Elternhaus, im Freundeskreis und bestenfalls im Kindergarten oder in der Schule. Und sie müssen nicht nur entstehen, sondern auch gedeihen und von anderen als solche erkannt werden.
Dass Teamfähigkeit eine wichtige Eigenschaft ist, wird kaum jemand bestreiten. Doch noch nie war sie so notwendig wie in den modern vernetzten Lebens- und Berufswelten. Nicht nur Kleinunternehmen setzen heute verstärkt auf gleichrangig und gleichberechtigt arbeitende Teams, sondern auch zahlreiche Großkonzerne liebäugeln inzwischen mit neuen Organisationsstrukturen. Das Zauberwort lautet: »flache Hierarchien«. Also genau das Gegenteil des Taylorismus mit seinen festgefügten Aufgaben und hierarchischen Strukturen. Bereits 1954 hatte Peter F. Drucker das Management by objectives als neuen Stil beschworen, das »Führen durch Zielvereinbarung«. Weil Eigeninitiative und Teamgeist die Produktivität förderten, sollte die moderne Unternehmenskultur die Spielräume der Mitarbeiter vergrößern. In vielerlei Hinsicht gilt dies auch für die Ökonomie der Wissensgesellschaft. Je besser die Mitarbeiter Zusammenhänge verstehen, umso mehr Wissen können sie produzieren und neue Aufgaben suchen und meistern. »Führung im 21. Jahrhundert«, schreibt der Trendforscher Matthias Horx, »ist die Fähigkeit, verschiedene Expertisen multiperspektivisch zu einem Erkenntnisprozess zu ordnen und daraus Strategie zu generieren.«93
Genau dies muss ein Abiturient heute können. Sollte tatsächlich ein jeder lernen, Eigenverantwortung zu übernehmen, werden die Hierarchien in der Wirtschaft unweigerlich flacher. Denn Rennpferde, so darf man annehmen, ordnen sich nicht flexibel unter wie Postpferde. Dass zu einem solchen Führungs- und Selbstführungsanspruch allerdings mehr gehört als nur ein starkes Ego, ist ebenfalls klar. Eine wichtige Erfahrung auf dem Weg zur Eigenverantwortung ist zum Beispiel das Scheitern. Wer noch nie mit etwas gescheitert ist, kann weder das Scheitern anderer gut verstehen noch sein eigenes künftiges Scheitern verarbeiten. Die sokratische Weisheit, dass Siegen »dumm macht«, findet ihre Bestätigung in den Scharen von Einser-Abiturienten und Top-Managern, die ohne Schwierigkeiten ihre Elite-Unis durchschritten haben, ohne dabei je mit sich selbst in Berührung gekommen zu sein. Es lässt sich nur hoffen, dass
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