An Land gehen. Erzählungen by Ben Marcus

An Land gehen. Erzählungen by Ben Marcus

Autor:Ben Marcus [Marcus, Ben]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783455812299
Herausgeber: Hoffmann und Campe Verlag
veröffentlicht: 2015-07-29T16:00:00+00:00


2

Krimis mit meiner Mutter

Ich glaube nicht, dass meine Mutter heute sterben wird. Es ist schon spät in der Nacht. Sie müsste in den nächsten fünfundvierzig Minuten sterben, was nicht wahrscheinlich ist. Ich habe sie gerade noch beim Abendessen gesehen. Wir haben es uns nach Hause liefern lassen und einen Krimi auf PBS gesehen. Sie gab mir einen Gutenachtkuss, und ich habe ein Taxi nach Hause genommen. Damit meine Mutter heute stürbe, müssten die Dinge schon eine krasse Wendung nehmen.

Meine Mutter hat ihr Päckchen an Gesundheitsproblemen zu tragen. Sie lebt allein, was die Wahrscheinlichkeit ihres Todes erhöht. Ich könnte von einem Anruf geweckt werden und erfahren, dass sie, kurz nachdem ich von ihr weggegangen bin, gestorben ist. Ich würde gerne sagen, dass die Chancen für den heutigen Tod meiner Mutter schlecht stehen, da so viel von dem Tag bereits vergangen ist. Sie muss nur noch weniger als eine Stunde überleben, zu Hause, in ihrem Bett, und dann wird sie wieder einen Tag mehr gelebt haben, und ich hatte recht. Aber ich weiß nicht genug über Wahrscheinlichkeiten. Mir scheint, die stillschweigende Voraussetzung für den Tod – den Tod einer alten Frau in ihrer Wohnung – ist, dass er nicht von menschengemachten Einfällen wie Wahrscheinlichkeiten berührt wird. Oft sagt man über Leute, sie hätten etwas entgegen aller Wahrscheinlichkeit geschafft. Aber dann müsste derjenige, welcher oder welche die Wahrscheinlichkeiten hütet – falls er oder sie intelligent ist –, von vornherein auch die ausgehebelten Wahrscheinlichkeiten mit einrechnen und die Wahrscheinlichkeiten korrekt anpassen. Wahrscheinlichkeitshüter können die Tatsache nicht ignorieren, dass Wahrscheinlichkeiten oft ausgehebelt werden. Das muss sie beunruhigen. Und dann passen sie die Wahrscheinlichkeiten an, nicht wahr, um die Wahrscheinlichkeiten zu präzisieren, oder? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlichkeiten sollten Wahrscheinlichkeiten sein, und sie sollten nie ausgehebelt werden. Wenn sie das werden, dann sind die Wahrscheinlichkeiten ungenau und sollten geändert werden.

Wenn meine Mutter wüsste, dass sie nur weniger als eine Stunde überleben muss – um nicht heute zu sterben –, würden ihre Überlebenschancen sich erhöhen? Falls ich sie nun anriefe und sie bitten würde durchzuhalten, damit sie heute nicht stürbe, würden ihre Chancen sich verändern? Mit anderen Worten, erhöht es unsere Überlebenschance, wenn wir bewusst versuchen weiterzuleben? Das scheint nicht wahrscheinlich, wobei sie jetzt eh nicht den Hörer abheben würde. Es ist spät in der Nacht. Sie ist müde. Sie war sogar beim Abendessen schon müde. Als wir unseren Krimi schauten, schlief sie ein. Bei Leuten eines bestimmten Alters unter bestimmten Umständen ist der Ausdruck dafür weggenickt. Meine Mutter ist weggenickt. Ich war so rücksichtsvoll, so zu tun, als würde ich es nicht merken, obwohl ich sie beim Schlafen beobachtet habe, unter der Decke auf dem Schaukelstuhl, den sie so liebt. Ich bemerkte, wie ihr Haar sich nicht mehr bewegte, nicht eine Strähne, egal, in welcher Position sie sich befand. Sie wachte während der Sendung wieder auf, und sie verstand sogar mehr von der Handlung als ich. Möglicherweise hatte sie diesen Krimi schon vorher gesehen.

Die Menschen, die in der Küche arbeiten, dort in den Burgen in England,



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