Alles ist wahr by Emmanuel Carrére

Alles ist wahr by Emmanuel Carrére

Autor:Emmanuel Carrére [Carrére, Emmanuel]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
veröffentlicht: 2014-04-18T22:00:00+00:00


Am Ende machte ich dennoch eine Art Praktikum und vergewisserte mich selbst, was Étienne mir zu verstehen gegeben hatte: Der Amtsrichter ist für die Justiz das, was der praktische Arzt für ein Stadtviertel ist. Sein Alltag sind unbezahlte Mieten, Zwangsräumungen, Lohnpfändungen, Pflegschaften von behinderten oder alternden Menschen, Streitfälle über Summen unter 10 000 Euro – alles darüber gehört in den Aufgabenbereich des Landgerichts, das in der Belle Etage des Gerichtsgebäudes sitzt. Jemandem, der je einer Verhandlung etwa beim Schwurgericht beigewohnt hat, kann man nur sagen: Das Amtsgericht bietet ein mageres Schauspiel. Alles daran ist gering, die Schuld, die Entschädigungen, das, was auf dem Spiel steht … Es gibt zwar Elend, aber es hat sich noch nicht zur Kriminalität ausgewachsen. Man klebt an Alltäglichkeiten und hat mit Leuten zu tun, die sich mit ebenso mittelmäßigen wie unüberwindbaren Schwierigkeiten herumschlagen, und meistens hat man noch nicht einmal mit ihnen zu tun, denn sie kommen nicht zur Verhandlung und auch ihr Anwalt nicht, denn sie haben keinen Anwalt, und so begnügt man sich damit, ihnen die richterliche Entscheidung per Einschreiben zukommen zu lassen, denn in der Hälfte der Fälle wagen sie nicht, selbst ins Gericht zu kommen.

Das täglich Brot des Strafrechtlers im Norden ist die Kriminalität von drogenabhängigen HIV-Infizierten. Das des Zivilrechtlers in Vienne sind Streitverfahren um Verbraucherkredite. Wie gesagt, Vienne ist eine bürgerliche Stadt und das Département Isère nicht das ärmste in Frankreich, dennoch brauchte Étienne nur wenige Wochen, um festzustellen, dass er in einer Welt lebte, in der Leute unter Schuldenlasten zusammenbrechen und sich von diesen nicht zu befreien vermögen. Bei diesen zivilrechtlichen Verhandlungen geriet ein kleiner Zwist über Trennwände oder vergeudetes Wasser zur willkommenen Erfrischung, weil er für zwanzig, dreißig Minuten die ewige Prozession von Verbraucherbanken unterbrach, die säumige Schuldner vor Gericht zitierten.

Étienne war weder durch sein Leben noch durch sein Studium auf diese Art von sozialem Elend vorbereitet worden. Nur ein einziges Mal hatte einer seiner Professoren an der ENM von Verbraucherrecht gesprochen, und das mit einer ironischen Abschätzigkeit, als handle es sich um ein Recht auf Dummheit für Leute, die Verträge unterzeichnen ohne sie zu lesen, und als sei es Demagogie, sich auf deren Seite zu stellen. Die Grundlage des Zivilrechts ist der Vertrag, liest man in den Lehrbüchern. Und die Grundlage des Vertrags sind der freie Wille und die Gleichheit der beteiligten Partner. Niemand verpflichtet sich gegen seinen Willen zu etwas – oder sollte es zumindest nicht tun –, wer es dennoch tut, muss die Konsequenzen tragen, beim nächsten Mal handelt er wahrscheinlich klüger. Étienne hatte keine acht Jahre am Pasde-Calais zubringen müssen, um zu verstehen, dass die Menschen weder frei noch gleich sind, nichtsdestotrotz blieb er weiterhin der Meinung – sonst wäre er wohl nicht Jurist geworden –, dass Verträge eingehalten werden müssen. Als jemand, der in einem bürgerlichen Milieu aufgewachsen war, hatte er nie echte Geld-sorgen gekannt. Nathalie und er besaßen ein Gemeinschaftskonto, ein Sparbuch und eine Lebensversicherung, und sie hatten ein Darlehen für ihre Wohnung aufgenommen, dessen Raten sie per Lastschrift automatisch abbuchen ließen,



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