Aller Liebe Anfang by Judith Hermann

Aller Liebe Anfang by Judith Hermann

Autor:Judith Hermann [Hermann, Judith]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783104024929
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2014-07-30T22:00:00+00:00


Und wo waren Sie, sagt Esther. Wo sind Sie das ganze Wochenende gewesen, Sie sind ja auch nicht die Hellste, aber die anderen Mädchen aus Ihrem schrecklichen Pflegedienst sind wirklich noch dümmer, sie sind alle scheußlich dumm.

Stella antwortet nicht, wenn Esther in dieser Verfassung ist, redet sie gar nicht mit ihr. Sie macht die Fenster auf und wieder zu, lässt die Jalousien aus chinesischem Papier herunter, bezieht das Bett neu und wechselt die Blumen in den Vasen aus, sie wäscht Erdbeeren ab, schneidet und zuckert sie, ich werde das nicht essen, sagt Esther, ich esse gar nichts mehr, ich esse nichts von alledem. Esther sitzt auf ihrem Korbstuhl, eine zerknitterte Königin in sandfarbener Unterwäsche, sie sieht aus wie ein altes, störrisches Kind, ihre Haare stehen zu Berge, ihr Gesicht glüht. Stella hebt sie in den Rollstuhl, einen Moment stehen sie beide engumschlungen mitten im Raum, Esther in Stellas Arm, eine Aufforderung zum Tanz. Stella spürt Esthers Atem an ihrem Schlüsselbein, sie spürt Esthers Zartheit. Sie schiebt Esther ins Bad, hebt sie auf den Rand der Wanne, stellt Esthers Füße in die Wanne und dreht das kalte Wasser auf, sie wäscht Esther, dann sitzt sie auf der Toilettenschüssel und sieht zu, wie Esther das Wasser mit geschlossenen Augen über ihren Puls laufen lässt, über ihre Unterarme, die Knie. Als säße sie an einer Quelle.

Also, sagt Esther. Wo waren Sie. Wie war’s. Es ist deutlich zu merken, dass Sie irgendein Problem haben. Reden Sie mit mir.

Stella muss darüber lachen. Sie glaubt, dass Esther sich mit diesem vorgetäuschten Interesse für andere durch ihr ganzes Leben geschummelt hat, dass Esther im Grunde gar nichts wissen will, nichts von Stella und auch nichts von jemand anderem. Sie ist interessiert, aber nicht am Einzelnen, eher am Großen und Ganzen. An der Weltpolitik. Dem Ausgang der Kriege. Krieg an sich.

Ich war draußen aufm Land, sagt Stella. Mit meinem Mann und meinem Kind. Wir waren baden. Es ist alles in Ordnung, ich gebe Ihnen noch fünf Minuten, dann müssen wir zurück ins Zimmer. Sie werden die Erdbeeren essen, ich werde Sie dazu zwingen.

Ach, zum Teufel, Sie können mich mal, sagt Esther träge. Ihr Mann und Ihr Kind. Ich habe auch einen Mann gehabt und einige Kinder, und sie sind alle weg, auf und davon. Das Leben ist grässlich, sind Sie schon dahintergekommen?

Sie wehrt Stellas Hände ab. Wäscht sich selber das Gesicht und den Nacken, bleibt auf dem Rand der Wanne sitzen, nackt, ein Inbegriff.



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