Abgetaucht by Wolfgang Burger

Autor:Wolfgang Burger
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Abgetaucht, Karlsruhe-Krimi, Regio-Krimi, Regionalkrimi, Karlsruhe, Kontrast Verlag, Wolfgang Burger, Burger, 978-3-86447-058-5
Herausgeber: Kontrast Verlag
veröffentlicht: 2014-06-23T16:00:00+00:00

3. Das unendlich schwere Kind

Die Frau war einfach schrecklich. Walter Matthau, der war ja ganz okay. Der hatte gute Augen, und obwohl er sich Mühe gab, böse zu tun, wusste Lilli genau, dass sie vor ihm keine Angst zu haben brauchte. Manchmal zwinkerte er ihr zu, wenn die Frau es nicht sehen konnte, oder lächelte ein bisschen. Einmal, am ersten oder zweiten Tag, hatte er ihr sogar heimlich eine Packung mit Süßigkeiten zugesteckt. Die waren in einer fremden Sprache beschriftet, die sie für Französisch hielt. Lilli hatte sie versteckt und nicht angerührt.

Die Frau aber, die konnte einen durch ihre dicke Brille ansehen, dass einen grauste. Natürlich hatte Lilli sie sofort wiedererkannt. Es war die Frau vom letzten Freitag, die ihr in der Straßenbahn aufgefallen war und später im Kaufhaus.

Inzwischen hatte sie sich zusammengereimt, was geschehen war: Walter Matthau hatte tagelang versucht herauszufinden, wo sie wohnte. Das hatte aber nicht geklappt. Daraufhin hatte am Freitag die Frau die Sache übernommen, und die war offenbar viel geschickter gewesen. Sie musste ihr und Annemie durch die ganze Stadt und bis nach Hause gefolgt sein, und sie hatte nicht das Geringste davon gemerkt. Dann, als sie Enten füttern waren, hatten sie eingebrochen, den Ordner aber natürlich nicht gefunden. Und schließlich war ihnen nichts mehr anderes eingefallen, als sie zu entführen, um von ihr zu erfahren, wo er war. Aber sie würde es niemals verraten.

Annemies Telefonnummer hatten sie dann leider rasch auf dem Zettel im Brustbeutel gefunden. Ob sie sie schon angerufen hatten, wusste Lilli nicht.

In den ersten Tagen hatte sie entsetzliche Angst gehabt, sich aber nichts anmerken lassen. Die ganze Zeit hatte sie bewegungslos auf ihrer Matratze gesessen, vor dem Heizstrahler, den sie ihr hingestellt hatten, und ihnen niemals ins Gesicht gesehen. Sobald sie jemanden auf der Treppe hörte, hatte sie das Hörgerät ausgeschaltet und sich ganz klein gemacht und sie einfach nicht angesehen. Sie hatte auf keine Frage geantwortet, nichts angenommen, auf kein Angebot reagiert, selbst den Fernseher, den sie ihr mit viel Mühe und Gezeter und mit Hilfe eines langen Antennenkabels am Montagabend hingestellt hatten, benutzte sie nur, wenn sie allein war.

Mit jedem Tag war die Frau wütender geworden und Walter Matthau immer verlegener und trauriger. Aus den Augenwinkeln konnte Lilli sehen, wie die Frau schrie und zeterte. Aber weil sie nichts hörte, war das nicht wirklich schlimm. Und bisher hatten sie nicht gewagt, sie anzufassen.

Der Fernseher war ein Glück. ARTE brachte zur Zeit eine Alain-Delon-Reihe. Gestern war Nur die Sonne war Zeuge gekommen, für heute war „Der eiskalte Engel“ angekündigt. Auf den freute sie sich besonders, obwohl sie ihn schon dreimal gesehen hatte.

Sonst berührte Lilli nichts, was die beiden ihr brachten. Weder das Essen noch die Comic-Hefte, die sie gestern angeschleppt hatten, nicht die Süßigkeiten von Walter Matthau, einfach nichts. Wenn sie hereinkamen, dann saß sie immer an derselben Stelle in derselben Haltung und starrte die feuchte Wand an, in deren bröckelndem Putz man die fantastischsten Dinge entdecken konnte, wenn man lange genug hinsah. Gesichter, Fabeltiere, ein weißes Schloss ganz oben auf einem ungeheueren Eisberg.

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