Abgehauen by Grit Poppe

Abgehauen by Grit Poppe

Autor:Grit Poppe
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Cecilie Dressler Verlag, Hamburg
veröffentlicht: 2011-12-31T16:00:00+00:00


10 Seit zwei Stunden liefen sie an einer Landstraße entlang.

Ab und zu, wenn ein Auto sich näherte, streckten sie die Arme aus und winkten. Aber die Fahrzeuge rauschten an ihnen vorbei und sie mussten beiseitespringen, um das dreckige Pfützenwasser nicht abzubekommen.

Fremde Autos, fremde Kennzeichen, fremde Menschen.

Gonzo starrte ihnen verwundert nach. Was die Fahrer wohl dachten, wenn sie die beiden Gestalten am Straßenrand sahen? Vertrauenerweckend wirkten sie wahrscheinlich nicht gerade.

Sie sahen nass und schmutzig aus; die Kleidung mit Modder beschmiert. Vielleicht gehörte die Kuhle, in der sie gelegen hatten, ja den Wildschweinen.

Kein Wunder, dass niemand hielt.

Gonzos Stiefel waren undicht, und das Wasser, das erst in die Ritzen eingedrungen war, suppte nun wieder hinaus. Bei jedem Schritt machten ihre Schuhe eigenartig schmatzende Geräusche. Zuerst war ihr das peinlich gewesen, aber René schien es nicht zu bemerken, und inzwischen hatte sich Gonzo fast daran gewöhnt.

Sie redeten wenig und sie liefen nicht mehr Hand in Hand. René schien mit den Gedanken woanders zu sein. Vielleicht war er schon im Westen und schmiedete Pläne, was er mit seinem neuen Leben anfangen wollte. Kam sie in diesen Plänen vor? Was würde sie tun, wenn es klappte, wenn sie es nach drüben schaffte?

Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Doch alles schien ihr besser als das, was hinter ihr lag.

Was war der Westen? Meister Proper, Sarotti-Schokolade und Niveacreme? Man konnte sagen, was man wollte, ohne Probleme zu bekommen, hieß es. Man konnte in ein Flugzeug steigen und nach Amerika oder Australien oder Spanien fliegen. Für Gonzo waren diese Länder nur Flecken auf der Landkarte – so weit weg wie der Mars oder der Jupiter. Unerreichbar. Unvorstellbar.

Im Augenblick kam es ihr vor, als würden sie auf der Stelle treten. Liefen sie überhaupt in die richtige Richtung?

»Wie weit ist es noch?«, fragte sie schließlich.

René lachte auf, als hätte sie sich einen dummen Scherz erlaubt.

»Wenn wir weiter so langsam vorankommen, sind wir vielleicht morgen Abend in Prag.«

Seine Stimme klang gereizt und mürrisch. Er versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, aber seine letzte Packung war nass geworden, vielleicht auch die Streichhölzer oder beides. Verärgert warf er erst die eine, dann die andere Schachtel in den nächsten Busch.

Wäre er lieber ohne sie unterwegs? War sie ein Hindernis für ihn? Schließlich besaß er einen Ausweis und hätte sich einfach in einen Zug nach Prag setzen können, oder?

Ohne dich wäre er schon längst dort, zischte der griesgrämige Punk in ihrem Kopf.

Halt die Klappe!, fauchte sie wütend zurück.

Aber Renés Ungeduld war nicht zu übersehen.

Eine Weile lief er stumm und schnell neben ihr her.

»Alles in Ordnung?«, fragte Gonzo, als sie sein Schweigen nicht länger aushielt.

»Die hatten Kalaschnikows«, brummte er wie zu sich selbst. »An der sogenannten Friedensgrenze.«

Gonzo zuckte mit den Schultern. Und wenn schon, was hatte er denn erwartet? Dass die Grenzer mit Spazierstöcken herumwanderten? Sie waren entkommen, nur das zählte. Die DDR lag hinter ihnen. Und irgendwo vor ihnen befand sich Prag, diese Stadt, die ihr im Moment vorkam wie ein sagenumwobenes Märchenland mit einem Schloss namens »Botschaft«.

»Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte sie zuversichtlich. Es klang wie eine Frage, die gleichzeitig die Antwort war.



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