32 - Der Blaurote Methusalem by May Karl
Autor:May, Karl [May, Karl]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-08-24T22:00:00+00:00
DREIZEHNTES KAPITEL
Der Tempelbesuch und seine Folgen
Die Gäste schliefen gut und lange. Als sie erwachten, bekamen sie den Tee im Garten serviert und erfuhren, daß der Mandarin bereits in Amtsgeschäften fort sei. Er hatte dem Hausmeister Auftrag gegeben, seine Stelle bei ihnen zu vertreten. Da sie hörten, daß er am Vormittag nicht heimkehren werde, beschlossen sie, sich inzwischen die Stadt anzusehen, und baten den Hausmeister, die Sänften bereitzuhalten.
Bevor sie aufbrachen, machte der Methusalem dem Juwelier den versprochenen Besuch. Gottfried begleitete ihn, in der gewöhnlichen Weise hinter ihm herschreitend, während der Hund voranging.
Hu-tsin empfing sie mit großer Herzlichkeit und lud sie ein, in sein Familienzimmer zu treten, was gewiß eine Auszeichnung für sie war, da ein Chinese nicht so leicht einem Fremden einen Einblick in seine Familie gestattet.
Von einem eigentlichen Zimmer nach unserm Sinn war keine Rede. Es war ein großer Raum, welcher durch verschiebbare Kulissenwände beliebig abgeteilt werden konnte. Hinter einer dieser Wände trat die Frau hervor, welche sie schon gestern abend, aber bei der Laternenbeleuchtung nicht so deutlich wie jetzt, gesehen hatten. Sie besaß mongolische, aber sehr sanfte und ansprechende Gesichtszüge. Sie reichte den beiden ihre Hände und bat sie, eine Tasse Tee mit ihnen zu trinken, was auch gern geschah.
Der Tisch, an dem man Platz nahm, war weit niedriger als bei uns, und die Stühle hatten dem angemessen auch eine geringere Höhe. Es gehörte Übung und Gewohnheit dazu, sich da bequem zu fühlen.
Natürlich war das Ereignis des gestrigen Abends der Hauptgegenstand des Gespräches. Degenfeld schärfte dem Chinesen ein, ja nicht verlauten zu lassen, wie die Sache sich in Wahrheit zugetragen habe.
Während sie sich unterhielten, hörten sie unterdrückte Kinderstimmen hinter einer der Wände. Auf das Befragen Degenfelds sagte Hu-tsin, daß dort seine Kinder säßen und sich mit Lesen beschäftigten.
Kinder und lesen, in China! Das war dem Methusalem höchst interessant. Er bat, die Kleinen sehen zu dürfen, worauf der Juwelier die Wand zur Seite schob. Da saßen zwei Knaben und ein Mädchen, der älteste wohl nicht über elf Jahre, an einem kleinen Tisch und hatten eine Schrift vor sich auf demselben liegen. Sie standen sofort auf, kamen herbei und verbeugten sich so tief, daß ihnen die kleinen dünnen Zöpfchen nach vorn fielen. Die ernsten, zeremoniellen Gesichter, welche sie dabei machten, gaben ihnen ein außerordentlich drolliges Aussehen.
Methusalem bat sich das Buch aus und warf, als er es erhalten hatte, einen Blick auf den Titel und einen zweiten längeren auf den Inhalt.
„Hältst du das für möglich, Gottfried“, rief er aus; „eine Jugendschrift!“
„Wat? Eine Jugendschrift? Ist es die Möglichkeit? In China eine Jugendschrift? Wohl gar à la Spemanns Universum?“
„Ähnlich, mit Bildern, doch in richtigen Reimen geschrieben.“
„Dat ist mich neu! Dat habe ich diesen Chinesigen nicht zujetraut!“
„Oh, da hast du dich in einem großen Irrtum befunden. In China kann ein bedeutend größerer Prozentsatz der Bevölkerung lesen als zum Beispiel in Frankreich.“
„Aberst unsre deutschen Jungens sind den hiesigen doch jewiß noch über?“
„Natürlich!“
„Schade, daß ich nichts lesen kann! Sprechen tue ich zwar manches Wort, verstehen auch, aberst mit das Lesen, da hapert es jewaltig. Wat steht denn eijentlich drin? Wat wird die Jugend hier jelehrt?“
„Nur Gutes.
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