110 - Ein Bulle bleibt dran by Cid Jonas Gutenrath

Autor:Cid Jonas Gutenrath
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2013-09-05T00:00:00+00:00

Das Loch in der Brust

Sascha hat eine Taube gefunden. Es geht ihr nicht gut. Sascha geht es auch nicht gut. Er ist vierzehn Jahre alt, damit knapp strafmündig, lebt im Berliner Stadtteil Neukölln und hat sich ganz im Sinne des dortigen Bezirksbürgermeisters integriert. Denn er gehört einer Minderheit an. Zumindest in seiner Schule und seiner Klasse. Der Minderheit der Deutschen. Pardon, der Minderheit der Deutschen ohne Migrationshintergrund. »Voll krass« und »Ich schwöre« baut er in jeden zweiten Satz ein. Nun sollte man meinen, er wäre roh, brutal und gefühllos. Ist er aber nicht. Oder doch, vielleicht manchmal, gegenüber Menschen. Wenn sie ihn zu oft Schweinefresser oder Opfer genannt haben. Eigentlich aber nur, wenn er es nach Schulschluss nicht schnell genug geschafft hat zu verschwinden und mit dem Rücken zur Wand steht. Heute aber ist alles anders. Heute hat er die Bullen angerufen. Nicht für sich, weil ihm ein Butterflymesser vor der Nase surrt oder er sein eisern zusammengespartes Handy rausrücken soll. Nein, für jemand anderen. Heute hat ihn das Schicksal in Form einer Taube besucht. Eine kleine, bezeichnenderweise schneeweiße Taube mit einem grünen Ring um den Knöchel und einer wichtigen Lektion im Gepäck. Denn heute wird Sascha erwachsen. Heute wird Sascha töten. Und es wird so gar nichts zu tun haben mit dem Big Thrill, den er aus Filmen kennt und von Computerspielen. Nicht einmal mit Selbstverteidigung. Sondern mit Verantwortung, Vertrauen und Liebe.

»Boah, voll krass, ey! Alter, sieht das eklig aus!«, ist erst einmal alles, was er zu sagen hat, nachdem er sich gemeldet hat. Dann erzählt er mir, dass er auf dem Weg zu seinem besten Freund Ali immer durch einen Park gehen muss. Eines dieser Berliner Hundeklos, das zu durchqueren gleich in zweierlei Hinsicht gefährlich ist. Erstens, weil einem anschließend mit großer Wahrscheinlichkeit Kacke am Schuh klebt, und zweitens, weil man mindestens einmal angequatscht wird, ob man Drogen kaufen will, und darauf tunlichst die richtige Antwort parat haben sollte. Diesmal jedoch nichts dergleichen. Ein weißer Fleck an einem Gebüsch sei ihm aufgefallen. Und weil nichts in diesem Park und in Saschas Leben ein so blütenreines Weiß zu haben scheint, ist dieser Fremdkörper seinem geübten Blick natürlich nicht entgangen.

Da sie in diesem Alter und in dieser Gegend mit »Boah, voll krass, ey« einfach alles meinen können, von klaffender Messerwunde bis Popel im Gesicht, frage ich meinen jungen Berliner erst einmal: »Was ist passiert?«

Vordergründig abgeklärt und den coolen Macker mimend, lässt er mich daraufhin wissen: »Was passiert ist? Hier hat jemand ’nen echt beschissenen Tag erwischt, schätze ich, das is’ passiert!«

Dieser Vortrag beflügelt verständlicherweise meine Phantasie und Befürchtungen eher, als dass er sie eindämmt. In halber Alarmbereitschaft und alles andere als entspannt, lasse ich den Klassiker vom Stapel: »Sascha, was ist wo wem passiert?«

Ob er sich nun über mich lustig machen will, meine Frage nicht verstanden hat oder einfach nur laut denkt, er sagt auf jeden Fall etwas, was meine Ohren richtig spitz werden lässt und mich in volle Alarmbereitschaft versetzt: »Boah, Typ, sieht voll scheiße aus, der wird hier

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