100 Stunden by Jean-Christophe Ruffin

100 Stunden by Jean-Christophe Ruffin

Autor:Jean-Christophe Ruffin [Ruffin, Jean-Christophe]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-03-03T05:00:00+00:00


VI

LYON, FRANKREICH

Die kleinen Gässchen der Altstadt von Lyon waren überaus pittoresk. Das war auch der Stadtverwaltung klar, deswegen wurden sie auch restauriert, Pflasterstein für Pflasterstein. Alles war alt, aber makellos. Touristen strömen durch die Passagen wie toxische Substanzen durch rostfreie Rohre.

Von seinem Zimmerfenster aus überblickte Jonathan eine abschüssige Straße mit einer nutzlos gewordenen Abflussrinne in der Mitte und mittelalterlichen Lädchen zu beiden Seiten, die zu Antiquitätengeschäften oder Internetcafés umfunktioniert worden waren. Etwas weiter hinten ragte der Glockenturm der Église St. Paul über die romanischen Ziegeldächer. Normalerweise beruhigte es ihn, am Fenster zu stehen und die Straße zu beobachten. Wenn er ein bisschen viel gekifft hatte, machte er sich seinen eigenen Film. Dann kamen aus allen Gässchen Polizeitrupps herangeschlichen, um sein Haus zu umstellen. Und er stand lachend in seinem Taubenschlag und knallte sie nacheinander ab wie Karnickel. Heute jedoch war er weit entfernt von solchen Rollenspielen.

Die Straße war fast menschenleer. Da und dort kam ein Pärchen aus einem Gasthaus und machte noch einen Abendspaziergang, um sich ein bisschen warmzuknutschen und vor allem nach der Knoblauchwurst auszulüften. Kein Schatten eines Beobachters in den Hauseingängen. Nichts Verdächtiges also. Wäre da nicht dieser Anruf gewesen am helllichten Sonntagnachmittag …

Die Amerikanerin hatte sich am Telefon als ›Ruth‹ vorgestellt und behauptet, ihn von One Earth zu kennen. Am Ende ihrer Europareise sei sie für zwei Tage in Lyon. Es sei ihr ein bisschen peinlich, sagte sie, aber naja, du verstehst, ich bin leider pleite. Ob er sie womöglich für ein, zwei Nächte bei sich unterbringen könnte? … Ihre Stimme hatte dabei ein wenig gebebt … hinreißend! Dann hatte sie noch hinzugefügt, sie könne natürlich in einem Sessel schlafen, und Jonathan hatte schallend darüber gelacht. Trotzdem, irgendetwas stimmte an dem Ganzen nicht. Er konnte sich auch an keine Ruth erinnern, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Einmal hatte er den Versuch unternommen, eine Liste aller Mädchen aufzustellen, mit denen er mal was gehabt hatte, aber das war, ehrlich gesagt, völlig unmöglich. Also warum auf eine Chance wie diese verzichten? Sie hatte wirklich eine süße Stimme, und wenn der Rest genauso war … Er hatte ihr ein Café in der Avenue de la République als Treffpunkt vorgeschlagen. Sie würde lieber gleich zu ihm kommen, hatte sie gesagt, das sei doch einfacher, oder? Sie habe so viel zu tragen. Da war er zusammengezuckt: Sie kannte seine Adresse! Das war ausgesprochen merkwürdig und ungewöhnlich. Er hatte sie kaum jemandem gegeben und war sich vollkommen sicher, dass er sie bei One Earth nicht hinterlassen hatte. Woher sie sie denn habe? Aus einer Verkettung von Zufällen sei sie darauf gekommen. Sie würde es ihm erzählen, wenn sie sich sähen …

Jonathan empfand ein heftiges Verlangen. Die Stimme dieser Unbekannten erregte ihn. Nachdem in der letzten Woche sein Lügengebäude aufgeflogen war, mit dessen Hilfe er drei Affären gleichzeitig gemanagt hatte, und alle drei Mädchen ihn verlassen hatten, waren magere Zeiten angebrochen … er war auf Entzug.

»Wann kannst du da sein?«

»In einer Stunde, okay?«

Schnell sah er sich um: schmutziges Geschirr, Socken und ein paar Buck-Dosen auf dem Boden.



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