08 - Ottokar, die Spottdrossel by Ottokar Domma

08 - Ottokar, die Spottdrossel by Ottokar Domma

Autor:Ottokar Domma
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3-320-01824-8
veröffentlicht: 2011-09-24T04:00:00+00:00


Sehr geehrte Frau Nachtigall!

Wir kennen uns ja schon einige Jahre, und es drängt mich, Ihnen einmal zu sagen, daß Sie echt stark sind, einfach supertoll. Ich meine Ihren Gesang. So viel schöne Melodien würden mir nie einfallen. Im Singen hatte ich während der Wende vom Knaben zum pupertierenden Jugendlichen eine Vier, obwohl ich Musik eigentlich gern höre. Aber die Stimme schwankte zu dieser Zeit stark zwischen Dur und Moll. Unsere langjährige Musiklehrerin, Fräulein Heidenröslein, die inzwischen auch zur Frau wurde, verglich meinen Gesang mit einer Dreckschippe, die in Mergelgestein wühlt. Da ich einigermaßen gut pfeifen konnte, bekam ich keine Sechs. Das nur, damit Sie wissen, ich bin kein musikalisches Wunderkind.

Ihr Gesang, sehr geehrte Frau Nachtigall, hört sich an wie ein zartes Flötenkonzert. Eigentlich hab ich für Flöten nicht viel übrig, besonders nicht für Blockflöten. Mir grauste immer vor Schüleraufführungen, wo Blockflöten auftraten. Ihre falschen Töne zogen mir die Schuhe aus. Bevor der letzte Ton aus dem Loch der Blockflöten entwich, war ich meist schon über alle Berge, na ja, wenigstens aus der Aula verschwunden.

Sie dagegen, Frau Nachtigall, beherrschen Ihr Instrument wie kein anderer. Ich kann mir vorstellen, daß in der Nacht, wenn ihre Lieder erschallen, Verliebte andächtig lauschen, sich anfassen und „ah“ und „oh“ stöhnen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Dichter einen ähnlichen Zustand bekamen. Vielleicht entstand so die sogenannte Liebeslyrik.

Aber heute? Die Romantik ist dahin. Die Jugend von heute bevorzugt Musik, die Trommelfelle zum Platzen bringt. Je lauter, um so lieber. Die Sänger und Sängerinnen schreien und krächzen wie Saatkrähen. Im Gegensatz zu Ihrem schlichten Outfit hüllen sie sich in glitzernde Kleider und lassen sich dazu noch von bunten Scheinwerfern bestrahlen. Na ja, irgendwie müssen sie auf sich aufmerksam machen, wenn sie schon nicht singen können. Selbst alte Sängerinnen wie Tina aus Amerika, die in ihrem Heimatland längst abgetakelt hat, feiert in unserem deutschen Vaterland noch fröhliche Auferstehung. Die greise Teenagerdame wußte, daß Deutsche wildes Geschrei und schrilles Gekirr lieben. Warum sollte sie abtreten, wenn der Rubel noch rollt, nein, genauer gesagt, der Dollar noch springt?

Sie, Frau Nachtigall, singen nicht um Geld und Gut, sondern sitzen bescheiden in den Büschen unseres Gartens und lassen in der Abenddämmerung bis tief in die Nacht hinein ihre wunderbaren Lieder erschallen, einschmeichelnd, frohlockend und manchmal auch mit einem gepfefferten Triller. Wahrscheinlich hängt das von der Antwort Ihres Partners ab, der sich hundert Meter weiter ausgerechnet in Motzkes Garten niedergelassen hat. Ich wundere mich überhaupt, daß es Ihr Partner bei diesem unflätigen Schreihals aushält. Warum holen Sie Ihren Liebsten nicht zu sich, also zu uns? Sie wären ein Traumpaar.

Ich nähme die schlaflosen Nächte, die Sie mit Ihrem Gesang ausfüllen, gern in Kauf, auch wenn ich am nächsten Tag wieder unausgeschlafen zur Schule komme. Ich muß mir nur die richtige Entschuldigung einfallen lassen. Als mich neulich Frau Heidenröslein fragte: „Ottokar, warum kommst du zu spät?“, da antwortete ich: „Das macht, es hat die Nachtigall die ganze Nacht geflötet und mir mit ihrem süßen Schall den letzten Nerv getötet.“ Sie war mit dieser Antwort sehr



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