04 - Mein ist die Rache by Elizabeth George

04 - Mein ist die Rache by Elizabeth George

Autor:Elizabeth George
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-03-14T17:32:06+00:00


16

»Allmächtiger, wie tief sind wir gesunken!« stöhnte Helen. Sie ließ ihren Koffer zu Boden plumpsen, seufzte einmal tief und ließ ihre Handschuhe an den Fingerspitzen baumeln.

»Mittagessen im Bahnhofsrestaurant. Wie kann man nur!«

»Hör mal, es war dein Vorschlag, Helen.« Deborah stellte ebenfalls ihr Gepäck ab und sah sich mit einem zufriedenen Lächeln in ihrer kleinen Wohnung um. Es tat überraschend gut, daheim zu sein, auch wenn das Daheim nur aus einem einzigen Zimmer in Paddington bestand.

»Schuldig!« sagte Helen. »Aber wenn man praktisch am Verhungern ist, kann man sich eben gastronomischen Snobismus nicht leisten. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als sich in die nächste Kaschemme zu stürzen, die in Sicht kommt.« Sie schauderte bei der Erinnerung an ihr Mittagessen. »Diese Würstchen! Ekelhaft!«

Deborah lachte. »Möchtest du etwas zur Stärkung? Eine Tasse Tee? Ich habe sogar ein Rezept für einen Gesundheitstrank, der dir vielleicht schmecken wird. Tina hat es mir gegeben. Ein Aufbaumittel, nannte sie es.«

»Das kann ich mir vorstellen, daß sie nach einer Begegnung mit Mick Cambrey Aufbau nötig hatte, wenn man seinem Vater glauben kann«, sagte Helen. »Aber ich verzichte auf das Vergnügen. Gehen wir lieber gleich mal mit seinem Foto nach nebenan.«

Deborah nahm das Bild aus ihrer Schultertasche und ging Helen voraus. Der Hausflur war schmal, mit Türen zu beiden Seiten. Ein scharfer Geruch stieg von dem relativ neuen Teppich auf dem Fußboden auf. Deborah klopfte leicht an Tina Cogins Wohnungstür.

»Tina ist - na ja, sie ist eine Nachtschwärmerin«, erklärte sie Helen. »Kann gut sein, daß sie noch gar nicht da ist.«

Das schien tatsächlich der Fall zu sein. Auf Deborahs Klopfen jedenfalls rührte sich nichts. Sie versuchte es ein zweites Mal etwas lauter. Dann ein drittes Mal. »Tina?« rief sie.

Die Tür gegenüber wurde geöffnet, und eine alte Frau sah heraus, um den Kopf voller Lockenwickel ein Tuch, das sie unter dem Kinn gebunden hatte.

»Die ist nicht da.« Die Frau hielt vor der Brust einen dünnen, lilafarbenen Morgenrock zusammen, den ein Muster scheußlicher orangefarbener Blüten und hellgrüner Palmwedel zierte, bei dessen Anblick einem jeder Wunsch, in die Tropen zu reisen, schlagartig verging. »Sie ist schon zwei Tage weg.«

»Wie dumm«, sagte Helen. »Haben Sie eine Ahnung, wohin sie verreist ist?«

»Das möcht' ich auch gern wissen«, antwortete die Frau.

»Sie hat sich mein Bügeleisen gepumpt, und jetzt steh' ich da.«

»Das ist ja allerhand«, erklärte Helen, als habe sie volles Verständnis dafür, daß die Frau einzig in Ermangelung ihres Bügeleisens gezwungen war, am hellichten Nachmittag im Morgenmantel herumzulaufen. »Aber vielleicht kann ich es Ihnen wieder holen.« Sie wandte sich an Deborah. »Gibt es hier einen Hausmeister?«

»Ja, im Parterre«, antwortete Deborah und fügte leise hinzu: »Aber Helen, du kannst doch nicht -«

»Dann geh' ich gleich mal hinunter, ja?« Sie winkte Deborah vielsagend zu und eilte zum Aufzug.

Die alte Frau musterte Deborah von Kopf bis Fuß. Nervös lächelte Deborah und suchte verzweifelt nach einer beiläufigen Bemerkung über das Haus, das Wetter, irgend etwas, das die Frau davon abhalten konnte, sich darüber Gedanken zu machen, warum Helen einer Wildfremden gegenüber so überaus zuvorkommend war. Sie gab ihre Bemühungen auf, als ihr nichts Passendes einfiel, und zog sich in ihre Wohnung zurück.



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