01-Vergissmeinnicht by Kerstin Gier

01-Vergissmeinnicht by Kerstin Gier

Autor:Kerstin Gier [Gier, Kerstin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2021-09-28T22:00:00+00:00


Quinn

Wieder hatte ich das Gefühl, mich plötzlich in einem Schneesturm zu befinden und mich selber in Schneegestöber zu verwandeln, nur für den Bruchteil einer Sekunde, und dann war alles vorbei. Ich stand auf einer steilen Straße, die mich auf den ersten Blick an das ligurische Bergdorf erinnerte, in dem wir vor ein paar Jahren Urlaub gemacht hatten: Mehrstöckige schmale Häuser mit Natursteinfassaden reihten sich malerisch am Straßenrand entlang, unterbrochen von Treppen oder Torbögen, die in andere Straßen führten, und hohen Mauern, hinter denen sich offenbar Gärten verbargen. Was fehlte, waren die parkenden Autos, die lärmenden Vespas und die Wäscheleinen, die zwischen den Hauswänden gespannt gewesen waren und die mein Vater andauernd fotografiert hatte. Auf der Straße und hinter den Fenstern regte sich nichts, als wäre ich in einem gigantischen menschenleeren Filmset gelandet. Nicht mal eine Katze lungerte irgendwo herum.

Hastig drehte ich mich zu dem Portal um, aber da war nur noch eine Mauernische zu sehen, die in etwa der Größe der Mitteltafel des Triptychons entsprach, durch das ich geklettert war. Mit grüner Farbe und in ungelenken Buchstaben hatte jemand »Freiheit für die Oger!« neben die Nische gesprüht. Na toll.

Ich war so heiß darauf gewesen, endlich wieder diese herrliche Leichtigkeit eines durch und durch gesunden Körpers zu spüren, dass ich nicht auf Matilda gehört und auch nicht wirklich nachgedacht hatte, ehe ich in das Bild geklettert war. Nicht schlau, wenn man a) nicht wusste, was einen dahinter überhaupt erwartete, und b) keine Ahnung hatte, ob man problemlos wieder zurückgelangen konnte.

Aber als ich mit der Krücke testweise gegen die Mauer klopfen wollte, fuhr sie durch die Steine hindurch, als bestünden sie aus Pudding. Rund um die Eintauchstelle flimmerte es hell, und ein leises Knistern war zu hören. Das war doch schon mal vielversprechend. Ich zog die Krücke wieder heraus und versuchte dasselbe an einer anderen Stelle der Nische. Auch hier bot die Mauer keinerlei Widerstand. Als Nächstes tunkte ich eine Hand in die Steine, was sich sehr seltsam anfühlte, so, als fehlte mir das Handgelenk, aber meine Fingerspitzen konnte ich trotzdem bewegen. Ich stellte mir vor, wie lustig meine Hand gerade auf der anderen Seite aus dem Bild herausragte. Für den Fall, dass Matilda gerade hinschaute, hielt ich den Daumen nach oben. Sehr gut. Offenbar war das Portal von dieser Seite nicht extra gesichert, was mir das beruhigende Gefühl gab, hier jederzeit abhauen zu können.

Zufrieden drehte ich mich wieder um, lehnte die Krücken gegen die Mauer und machte einen kleinen Luftsprung, einfach weil ich es konnte. Dafür, dass das hier alles nur aus »Geist« bestand, wie Professor Cassian sich ausgedrückt hatte, fühlte es sich verdammt echt an und sah verdammt echt aus. Der Eindruck, in einem ligurischen Bergdorf zu stehen, wurde noch dadurch verstärkt, dass die Mittagssonne von einem strahlend blauen Himmel schien, allerdings ging keinerlei Wärme von ihr aus, so, als wäre sie nur täuschend echt an den Himmel gemalt. Um die Mittagszeit waren die Straßen in Ligurien auch immer so menschenleer gewesen, bis auf ein paar wenige Touristen, die sich aus dem Schatten gewagt hatten.



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