002 - Hoffnung by Miriam Georg

002 - Hoffnung by Miriam Georg

Autor:Miriam Georg [Georg, Miriam]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: History
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2022-10-17T22:00:00+00:00


Lautlos schlich sie über die Flure, wo das Licht des Mondes Schatten auf die dicken Perserteppiche malte. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass in den meisten Theaterstücken Flure und Durchgänge für Verwandlung standen, dass die größten Veränderungen, die die Figuren in den Stücken durchlebten, in diesen Zwischenräumen geschahen. Claire horchte in sich hinein, aber sie spürte nichts, keine Verwandlung, keine Eingebung.

Nur Angst.

So leise, dass es bloß jemand wahrnehmen würde, der darauf wartete, klopfte sie an Agathas Tür. Claire hörte ihren Herzschlag in den Ohren donnern. Die Antwort ihrer Mutter kam sofort, ein gehauchtes «Herein», dem Claire sogar durch die Tür hindurch die Anspannung und Erwartung anhörte.

Sie umklammerte den Knauf, schloss die Augen und wünschte sich ein Jahr zurück, in ihr oberflächliches, verschwenderisches, normales Leben.

Dann trat sie ein.

Agatha saß wie eine Statue in ihrem Himmelbett, umgeben vom Schein der Nachttischlampe, den Oberkörper erwartungsvoll zur Tür gerichtet, die Augen so groß in ihrem bleichen Gesicht, dass sie Claire beinahe fremd erschien. Sie erschrak, wie anders ihre Mutter aussah, wie dünn und eingefallen. Wie krank. Aber als sie blinzelte, war die alte Agatha wieder da, genau wie sie sie in Erinnerung hatte, nur ein wenig schmaler.

«Claire», stieß Agatha hervor und machte Anstalten, aufzustehen.

Mit wenigen Schritten war Claire an ihrer Seite. «Bleib liegen. Bleib liegen, Mama.»

Wie sie ihre Mutter vermisst hatte! Wie sehr sie ihr gefehlt hatte. Agatha und sie waren immer wie zwei gleiche Pole gewesen, die sich abstießen, zwei Katzen, die einander umkreisten, sich aneinander rieben und sich anfauchten.

Wie falsch sie gelegen hatte mit ihrer Angst. Ihre Mutter war nicht böse auf sie, sie war nicht entnervt oder wütend. Sie war traurig.

Agatha umklammerte ihre Hand, musterte sie mit tränenverschleiertem Blick. Ihr ganzes Gesicht schien zu beben, so schwer fiel es ihr, die Fassung zu wahren. Sie umarmten sich, lang und fest, Claire hörte die unterdrückten Schluchzer ihrer Mutter an ihrem Hals, und sie fühlte so viel auf einmal, Liebe, Sorge, Verwirrung, Reue, Bitterkeit. Alles war da, und alles hatte seine Berechtigung.

Nun liefen auch ihr die Tränen über die Wangen, und sie wischte sie hastig mit dem Handrücken beiseite. «Mama, wie geht es dir?»

«Ja wie siehst du denn aus?», Agatha hielt sie fest, betrachtete erst jetzt ihr Gesicht. «Was ist dir denn nur passiert?» Sie schlug die Hände vor den Mund, und Claire musste den Impuls unterdrücken, sie anzufahren, dass sie ihr nicht noch unter die Nase reiben musste, wie schlimm sie aussah. Agatha meinte es nicht böse. Sie hatte es nie böse gemeint.

«Es ist, ich war … ich war krank, eine Augensache. Dann wurde ich falsch behandelt, auf dem Schiff, von einem Stümper von Arzt, der nicht erkannt hat, wie entzündet es war. Und nun ja. Das Lid wird sich im Laufe der Zeit normalisieren, aber …» Sie stockte, es wollte ihr nicht über die Lippen. Doch dann setzte sie sich gerader hin und räusperte sich. «Der Schleier wird mir bleiben. Für immer.»

Agatha blickte so entsetzt drein, dass Claire Angst hatte, sie würde gleich ohnmächtig darniedersinken. Dann zog sie die Nase hoch, wischte sich die Augen und machte eine wegwerfende Geste mit der Hand.



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